Stadtnachricht

Stuhlwechsel - Vier Männer machen mal was ganz anderes


Claus Stammler, Thomas Rösler, Horst Reingruber und Andreas Stanicki in fremden Welten

Am Anfang fremdelt er noch ein bisschen, dann aber richtet sich Claus Stammler auf dem ungewohnten Stuhl recht schnell ein. Er plaudert mit den alten Herrschaften, liest aus der Zeitung vor und macht geduldig auch die Sprünge im Gespräch mit, die er aus seinem Alltag so sicher nicht gewohnt ist. In der letzten Woche tauschten vier Herren ihre angestammten Stühle für ein paar Stunden mit welchen, die ihnen auf den ersten Blick recht fremd vorkommen mussten. Claus Stammler, von Beruf Architekt, verbrachte einen Vormittag lang bei Menschen mit Demenz im Spittler-Stift. Thomas Rösler malochte auf der Mülldeponie, Horst Reingruber bediente in der Karl-Wahl-Begegnungsstätte und Andreas Stanicki gab einen Vormittag lang den Erzieher im Kindergarten Pusteblume.

Soweit so originell. Aber wozu das Ganze? Sigrid Maier-Rupp, Ansprechpartnerin in der Stadt für das bürgerschaftliche Engagement, hatte die Idee, Menschen reinschnuppern zu lassen in andere Welten. Dabei auch zu zeigen, dass man sich durchaus auf ungewohnte Situationen einstellen kann und nebenbei ein Beispiel dafür geben, was der Einzelne außerhalb seiner normalen Wege für die Allgemeinheit tun könnte.

Claus Stammler also im Spittler-Stift. Die Menschen, die auf dieser Station leben sind dement. Manche wissen noch ein bisschen aus ihrem früheren Leben, manche wissen noch wozu eine Gabel gut ist, manche wissen nichts mehr oder nur noch einzelne Bruchstücke.

Claus Stammler lässt sich zunächst von der Wohnbereichsleiterin Adelheid Müller und von Heidelore Will der Verwaltungsleiterin in den Sinnesgarten führen. Freilich interessiert ihn auch die Architektur des Hauses, in dem es zum Beispiel wichtig ist, dass die Bewohner ungehindert ihre "Runden" drehen können. Helle, großzügige Räume, mit einer Küche mitten im Raum, aus denen man aber nicht so einfach herauskommt. Würde man die Türen einfach offen lassen, dann spazierte wohl manch Bewohner nach draußen in eine Welt, in der er sich aber nicht mehr auskennt.

Im Garten stehen Schneewittchen und die Sieben Zwerge in trauter Nachbarschaft mit einer gelben Telefonzelle. Die hat hier nicht einfach einer vor Jahrzehnten abgestellt und dann vergessen, sondern sie ist wie vieles im Spittler-Stift ein Signal aus der Zeit, in der die Menschen, die hier leben, noch mitten im Leben standen. Erinnerungen können sich vielleicht daran festhalten oder werden geweckt. Genauso wie beim Anblick der Märchenfiguren. Manche erinnern sich noch an die Geschichten aus ihrer Kindheit. Wie überhaupt den Demenzkranken die Tage aus ihrer lang vergangenen Lebenszeit viel näher sind als die letzten 24 Stunden..

Claus Stammler nimmt am Kaffeetisch Platz. Zunächst gruppieren sich vor allem Frauen um den fremden Mann. Manche schauen interessiert, andere blicken irgendwohin. Claus Stammler erzählt von den 2500 Mitarbeitern der LBBW, die vermutlich entlassen werden. "Des isch schlimm", sagt eine Dame, die den Kopf schüttelt ob dieser Nachricht.

Eine andere Meldung ist eher von unterhaltsamer Natur: Die Modezeitschrift "Brigitte" wolle künftig keine so dünnen Models mehr abbilden. Zunächst reagiert keine der Damen am Tisch. Dann aber beginnt eine von ihrer Nichte zu erzählen, die auch Brigitte heißt und die, nachdem sie aus der DDR hierhergekommen ist, nicht mehr auf die Straße wollte.

Die Erinnerung hat ihre eigenen Regeln. Claus Stammler, obwohl in seinem eigenen Leben nicht mit Demenzkranken konfrontiert, spürt schnell, wie er hier das Gespräch beleben kann. Statt die Sache mit der Mode weiterzutreiben, fragt er nach: "Woher kommen sie denn?" Eine Frau berichtet ihm von Breslau, wo sie als Kind gelebt hat. Über ihre Zeit als Erwachsene in Schorndorf und dass ein Mann namens Matthias Klopfer hier Bürgermeister ist, darüber weiß sie nichts. "Nein, den kenn ich noch nicht. Ist das die neue Generation?"

Ein Herr gesellt sich zur Runde hinzu. Zunächst reagiert er auf keine Fragen. Adelheid Müller weiß, wie man ihn erreichen kann. "Sie müssen ihn anfassen, wenn sie mit ihm reden".

Im Hintergrund schimpft ein Bewohner ein wenig, weil er eigentlich nicht will, dass eine Mitbewohnerin sich neben ihn setzt. "Sie sind halt sympathisch", schlichtet Adelheid Müller den kleinen Zwist.

Auf dem Klavier liegen Noten: Schlager der 30er und 40er Jahre. Claus Stammler wird den Morgen wohl nicht so schnell wieder vergessen. Jene, die er besucht hat, erinnern sich heute wohl schon nicht mehr an den großen Mann, der ihnen aus der Zeitung vorlas.

In guter Erinnerung hat Baubürgermeister Andreas Stanicki seinen "Stuhlwechsel". Einen Vormittag lang betreute er den Buben Johannes im Schulkindergarten Pusteblume. Hier sind Kinder, die körperlich behindert sind und sehr viele Dinge, die andere Kinder selbstverständlich tun können, nicht schaffen. Der Baubürgermeister hatte viel Spaß mit seinem Freund für einen Morgen. Der nämlich kann Frauen nicht so leiden, hat Andreas Stanicki erfahren, weshalb er auch gleich der genau Richtige für den Buben war.

"Ganz schön springen lassen" haben die Gäste der Karl-Wahl-Begegnungsstätte den Ersten Bürgermeister Horst Reingruber. Der zog das Jackett für einen Mittag lang aus und band sich die Schürze um. Andere bedienen, Suppe schöpfen und Essen servieren auch eine Erfahrung, die man mal machen sollte.

"Interessant" fand Thomas Rösler seinen "Stuhlwechsel". Er half einen Nachmittag lang auf der Deponie mit das, was die Menschen so loswerden wollen in die richtigen Tonnen zu werfen. Großen Respekt hat er vor der Arbeit seiner Kollegen auf Zeit und beeindruckt hat ihn, wie professionell hier gearbeitet wird. Empfehlen kann er den "Stuhlwechsel" jedem. "Das ist eine tolle Idee", sagt Thomas Rösler, der sich durchaus mal wieder einen Gang in eine ihm ansonsten fremde Arbeitswelt vorstellen kann.