Stadtnachricht

„Man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen“


2016-09-29_Stolpersteine

„Ein Zeichen gegen das Vergessen der Nazi-Diktatur“ nannte die Bürgermeisterin von Kahla, Claudia Nissen-Roth, die Verlegung der ersten Stolpersteine in der Schorndorfer Partnerstadt in Thüringen. Auch möchte man damit ein „politisches Zeichen“ setzen gegen die „Problematik des Rechtsextremismus“. Kürzlich trafen sich Vertreter der Stadt Kahla, von lokalen Vereinen und Partnerstädten, Lehrer und Schüler sowie Kahlaer Bürger bei der Erinnerungsaktion an zwei jüdische Familien, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden. Im Anschluss erfolgte im Kahlaer Rathaus die Eröffnung der Ausstellung „Nationalsozialismus und ‚Volksgemeinschaft’. Zur Vertreibung und Vernichtung der Kahlaer Juden“ sowie ein Vortrag des Kölner Künstlers Gunter Demnig, der zur Verlegung der Stolpersteine nach Kahla gekommen war.

1938 verhaftet

Die jüdischen Familien Jacobsthal und Cohn hatten seit 1903 in Kahla gelebt. Adolf und Clothilde Jacobsthal betrieben in der Roßstraße 28 ein Geschäft für Spiel- und Haushaltswaren sowie für Textilien. Zur Familie gehörten die Kinder Herbert und Siegfried aus Adolfs erster Ehe, sowie die gemeinsame Tochter Lotte Sabine. Die Familie war weitgehend in das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben Kahlas integriert. Adolf Jacobsthal war im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Die Söhne waren in Sportvereinen aktiv und Ehefrau Clothilde beim Roten Kreuz. Das Ehepaar Cohn betrieb ebenfalls ein Geschäft in der heutigen Rudolf-Breitscheid-Straße 16. Ihre Tochter Erna Cohn-Tittel war geschieden und hatte einen Sohn Karl Max Gunther. Mitglieder beider Familien wurden in der Reichsprogromnacht im November 1938 verhaftet. Nach ihrer Freilassung mussten die Geschäfte geschlossen und die Wohnungen verlassen werden und beide Familien eine gemeinsame Baracke beziehen.
Im Mai 1942 erhielten die noch in Kahla lebenden Familienmitglieder die Benachrichtigung zur Deportation. Clothilde Jacobsthal starb wenige Tage danach und Adolfs Spur verlor sich im Ghetto von Belsyce. Sein Sohn Herbert wurde in Auschwitz ermordet. Nur der Sohn Siegfried war 1933 emigriert und die Tochter Lotte konnte 1939 noch mit einem Kindertransport nach Schweden geschickt werden. Flora Cohn starb 1943 im Lager Theresienstadt und Erna Tittel überlebte Theresienstadt mit schweren Schäden.

Der Historiker Dr. Peer Kösling hat die Geschichte der beiden Familien rekonstruiert und in einer Broschüre festgehalten. Er begann mit den Recherchen 2013, weil er den rechtsextremen Bewegungen in Thüringen als Historiker etwas entgegensetzen wollte. Darauf basierend stellt die Ausstellung auf acht Fahnen die Geschichte der Kahlaer Juden und begleitend die Verfolgung der Juden im NS dar. Finanziell unterstützt wurde die Verlegung der Stolpersteine durch den „Partnerschaftsverein“ und den „Geschichts- und Forschungsverein Walpersberg e.V.“. Dieter Stops, Vorsitzender des Partnerschaftsvereins, meinte, die Stolpersteine „sprechen die Herzen an“ und man wolle damit den Schülern Geschichte näher bringen. Markus Gleichmann, stellvertretender Vorsitzender des Geschichtsvereins, rief dazu auf, dass sich die nachfolgende Generation gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus auflehnen und aus den damaligen Geschehnissen für die Zukunft lernen soll. Die Stadt Kahla und drei Schulen übernahmen Patenschaften für die Stolpersteine. Eine besondere Verbindung hat Kahla zur italienischen Kleinstadt Castelnovo ne’ Monti. Der Zweite Bürgermeister Emanuele Ferrari berichtete von den vielen, die aus seiner Heimatstadt während des Zweiten Weltkriegs nach Kahla verschleppt wurden, um im nah gelegenen Walpersberg in unterirdischen Stollen für die Rüstungsproduktion der REIMAHG zu arbeiten. 15.000 Zwangsarbeiter sollten dort unter unmenschlichen Bedingungen kurz vor Kriegsende die Messerschmidt Me262, ein Strahlflugzeug, bauen. Jetzt bemüht man sich um eine Versöhnung zwischen den Städten und strebt eine Städtepartnerschaft zwischen Kahla und Castelnovo an. Dr. h.c. Alber Weiler, MdB für die CDU, betonte bei der Stolpersteinverlegung die Notwendigkeit der Erinnerung in einer Zeit, in der gerade der Begriff „völkisch“ neu besetzt werden soll. Er rief dazu auf, dass die Demokraten in ganz Europa zusammenstehen sollten, um völkischen Bestrebungen Einhalt zu gebieten.

Mehr als 60.000 Steine

Mehr als 60.000 Stolpersteine in 21 Ländern Europas hat der Künstler Günter Demnig verlegt. So wurde in Schorndorf bereits eine ganze Reihe von Stolpersteinen verlegt, zuletzt im Juli 2016 für Marie Anna Fetzer. Für die Angehörigen, so Demnig, sei dies oft ein „Schlussstein“, sie könnten dann innerlich mit den Geschehnissen abschließen. „Man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen“, so habe einmal ein Schüler die Bedeutung des Projekts Stolperstein treffend zusammengefasst.