Die neue Stadtbibliothek
Braucht man heute eigentlich (noch) eine Stadtbibliothek? Diese Frage hörte Bibliotheksleiterin Marianne Seidel in den vergangenen Jahren immer wieder. Schließlich, so der Gedankengang der fragenden Person, trägt heute jeder mit dem Smartphone den Zugang zum Internet und damit zu Informationen und Unterhaltung in der Hosentasche. Tatsächlich haben sich die Aufgaben der öffentlichen Bibliothek in den letzten Jahrzehnten stark verändert. „Ja, man braucht sie. Aber sie muss ganz anders aussehen als früher“, ist deshalb die Antwort der Bibliothekarin. „Die bisherige Stadtbücherei ist als Ausleihbibliothek der Achtzigerjahre eingerichtet nach dem Prinzip reingehen, Buch holen, heimgehen. Doch das ist vorbei. Heute sind Bibliotheken attraktive Orte für Menschen: zum Lernen, Treffen, Arbeiten und natürlich weiterhin auch für Medien. Unser beliebtestes Medium sind aktuell Tonie-Hörfiguren. Wir verleihen Konsolenspiele, Gesellschaftsspiele, eBooks, wir bieten ein Filmstreaming und die Onleihe. Das Medienangebot hat sich stark erweitert, viele Angebote sind digital. Im letzten Jahr wurden 255.000 Ausleihen gezählt, darunter 212.000 physische Entleihungen und 43.000 Entleihungen über die Onleihe.“ Doch die Medien sind nur ein Teil des Angebotes. Der Raum an sich, Veranstaltungen und Serviceangebote sind heute viel wichtiger als früher. Wenn man grundsätzlich nach dem Zweck Öffentlicher Bibliotheken fragt, findet man global gültige Antworten.
Öffentliche Bibliotheken weltweit haben denselben Auftrag. Die Internationale Vereinigung bibliothekarischer Verbände und Einrichtungen (IFLA) formuliert ihn im gemeinsam mit der UNESCO veröffentlichten Manifest „Freiheit, Wohlstand und die Entwicklung der Gesellschaft und des Einzelnen sind grundlegende menschliche Werte. Diese Werte werden nur verwirklicht, wenn gutinformierten Bürgern die Möglichkeit gegeben wird, ihre demokratischen Rechte auszuüben und eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu spielen. Konstruktive Beteiligung und die Entwicklung der Demokratie hängen von zufriedenstellenden Bildungsangeboten und kostenlosem und unbegrenztem Zugang zu Wissen, Gedankengut, Kultur und Informationen ab.“
Und was sagt Baden-Württemberg? Schon 2009 verabschiedeten die Kommunalen Landesverbände Baden-Württemberg und der Landesverband Baden-Württemberg im Deutschen Bibliotheksverband (dbv) die gemeinsame Erklärung „Die öffentliche Bibliothek als öffentliche Aufgabe“. Das Positionspapier stellt fest: „Öffentliche Bibliotheken fördern die individuelle Persönlichkeitsentwicklung ebenso wie den sozialen Zusammenhalt einer Gemeinde. Sie sind ein wichtiger Baustein zur kinder- und familienfreundlichen Kommune. Als Ort der Begegnung bieten sie ein Forum für generationenübergreifende Aktivitäten. Öffentliche Bibliotheken sind die am meisten genutzten außerschulischen Bildungs- und Kultureinrichtungen. Aufgrund ihrer Breitenwirkung sind sie prädestiniert, an Antworten auf gesellschaftliche Fragen mitzuwirken. Fest steht, dass die Bildungsarbeit der Bibliotheken heute weit über die Erschließung und Bereitstellung von Medien hinausgeht. Sie umfasst vor allem folgende Bereiche: Öffentliche Bibliotheken…
- sind in der frühkindlichen Bildung intensiv tätig. Zusammen mit Kindertageseinrichtungen und Elternhaus erreichen sie einen hohen Wirkungsgrad
- sind mit den örtlichen Schulen und Schulbibliotheken vernetzt und fördern Methodenkompetenzen durch bibliotheksdidaktische Programme
- vermitteln, unabhängig von Herkunft und Einkommen, aktiv mediale Informationskompetenz
- dienen dem lebenslangen Lernen für Alltag und Beruf
- unterstützen Integration. Migrantinnen und Migranten nutzen in großer Zahl die Bildungschancen, die Bibliotheken bieten - sind ein lokaler Zugang zu Wissen und Kultur. Als reale öffentliche Orte sind sie ein Knotenpunkt für Information und Kultur
Es wird klar: Eine Stadtbibliothek ist viel mehr als nur ein Ort für Bücher. Deshalb bauen auch andere Kommunen neue Bibliotheken. Und der Erfolg gibt ihnen Recht: 2019 nutzten über 9,7 Millionen Menschen aktiv eine Bibliothek. Allein in den Öffentlichen Bibliotheken wurden mehr als 125 Millionen Besuche gezählt. Das ist eine eindrückliche Abstimmung mit den Füßen: Ja, man braucht sie.