Die neue Stadtbibliothek
Bibliotheken befinden sich seit Jahren in einem grundlegenden Veränderungsprozess. Während sie früher ein Hort des Wissens waren, verloren sie im Zuge der Digitalisierung ihr Informationsmonopol. Was man auf die Schnelle im Internet findet, muss man nicht in Büchern nachschlagen. Auch im Bereich von Unterhaltung entwickelt sich das Angebot weg von Medien „zum Anfassen“ hin zu digitalen Formen zum Download und Streaming. Gleichzeitig haben Bibliotheken weltweit beachtliche Besucherzahlen. Sie werden als Orte des Aufenthalts, des Austauschs, des Lernens und der Kreativität geschätzt.
Von zentraler Bedeutung für diesen Wandlungsprozess ist das Konzept des Dritten Ortes, wie die Website www.bibliotheksportal.de erläutert. Dieses wurde wesentlich von dem amerikanischen Raumsoziologen Ray Oldenburg geprägt. Erstmals formulierte er es 1989 in seinem Buch „The Great Good Place“. Für Oldenburg bildet der sogenannte „Dritte Ort“ neben dem Zuhause („Erster Ort“) und dem Arbeitsplatz („Zweiter Ort“) einen dritten elementaren Sozialraum, der identitätsstiftend für die Menschen und ihre Gemeinschaft vor Ort ist. Einen „Dritten Ort“ kennzeichnen charakteristische Merkmale: Er ist neutral, denn der oder die Einzelne hat keine Verantwortung gegenüber den anderen. Besucher können kommen, sich begegnen und wieder ungezwungen auseinander gehen. Er ist inklusiv, und der soziale Status spielt hier keine Rolle. Seine Offenheit ermöglicht eine hohe gesellschaftliche Durchmischung. Er ist gut erreichbar und zugänglich durch lange Öffnungszeiten und eine zentrale Lage. Es ist ein Ort für Austausch und Konversation, der den Kontakt zwischen Bürgerinnen und Bürgern fördert. Damit stärkt er den sozialen Zusammenhalt und regt das demokratische Leben an. Er besitzt eine offene, positive und gelöste Atmosphäre. Die Gäste fühlen sich wie in einem zweiten Zuhause. Dieser „Dritte Ort“ entwickelt sich laufend weiter und reagiert auf die Bedürfnisse der Menschen. Ray Oldenburg bezieht sich bei seinem Konzept nicht ausdrücklich auf Bibliotheken. Es wurde ursprünglich nicht im Kontext der Digitalisierung gesehen. Doch seine Theorie wurde in den vergangenen zwanzig Jahren in der internationalen Bibliothekswelt intensiv diskutiert und weiterentwickelt.
Wie eingangs beschrieben bedingt die Interpretation der Bibliothek als „Dritter Ort“ eine Fokussierung auf die Bedürfnisse der Menschen, die eine Bibliothek nutzen. Sie entwickelt sich vom Raum für Medien hin zum Raum für Menschen. Der Ausleihbestand rückt dabei zunehmend in den Hintergrund. Bücher-, CD- und DVD-Regale werden oft deutlich reduziert zugunsten von gemütlichen Sitzgelegenheiten. Es gibt nach Möglichkeit Freiräume für die Besucherinnen und verschiedenste Aktivitäten.
Auch die Schorndorfer Stadtbibliothek wird nicht mit ihrem kompletten heutigen Medienangebot umziehen. Ihr Konzept sieht eine deutliche Reduzierung des Sachbuchbestands vor. Das bedeutet, dass es nicht mehr alle Themengebiete abgedeckt werden und die Titelbreite verkleinert wird. Beispielhaft kann man dies an der Literaturgeschichte sehen, die sich auf Lernhilfen für die Schule konzentriert. Im Bereich Recht wird eine Auswahl hilfreicher Ratgeber angeboten und auf Gesetzessammlungen verzichtet. Auch der einst umfangreiche Bestand an Kunstbildbänden findet keinen Platz im Neubau. Stattdessen finden sich Anleitungen zu verschiedenen Techniken des künstlerischen Gestaltens im Regal. Leitschnur für diese Entscheidungen ist die Nachfrage vor Ort. Der Bestand konzentriert sich auf Titel, die den Schorndorferinnen und Schorndorfern im Alltag nützen. Diese Veränderung ist für Bücherliebhaberinnen natürlich nicht ganz ohne, schließlich hatten Bibliotheken lange den Anspruch, alle Wissensgebiete abzudecken. Der skizzierte Transformationsprozess führt zu anderen Schwerpunkten. Die neue Stadtbibliothek versteht sich als gesellschaftlicher Knotenpunkt, als Ort sozialer, kultureller und digitaler Teilhabe. Dabei spielen Bücher immer noch eine zentrale Rolle, aber nicht die einzige.