Stadtnachricht

Leidenschaftlicher Gottsucher und Mensch


Für die Schorndorfer gehört der Turm der Heilig-Geist-Kirche in der Südstadt als "Heimat-Zeichen" schon längst zum urbanen Bestand stadträumlicher Beziehung.

Der "Torre" fordert mit seinen hieroglyphischen Bild-Zeichen und Zeichen-Bildern zum Thema "Gaben des Heiligen Geistes" den Betrachter zum Innehalten und zum Nachdenken auf.

Geschaffen wurden die Außen-Fassaden vor 50 Jahren von dem Schorndorfer Maler, Grafiker, Bildhauer und Schriftsteller Alfred Seidel, dessen Geburtstag sich an Allerheiligen zum 100. Mal jährt. Ihm zu Ehren findet am 1. November in St. Markus um 19 Uhr eine Gedenkfeier statt.

Hundert Jahre - lässt man die ersten 50 Jahre gedanklich innerlich vorbeiziehen, dann wird deutlich, von welcher Dynamik und Dramatik sie geprägt waren - und wie sie Alfred Seidel auch existenziell betroffen haben: Im zweiten Jahr des I. Weltkrieges, 1915, verliert er seinen Vater. Und im II. Weltkrieg wird er selbst schwerst verletzt: eine Granate zerfetzt ihm die rechte Gesichtshälfte, der Künstler verliert dabei sein rechtes Auge. Diese furchtbaren Erfahrungen der Folgen wahnsinniger Kriege haben Alfred Seidel zu einem leidenschaftlichen Pazifisten gemacht. Schließlich verliert er als Vertriebener aus Ostoberschlesien auch noch die Heimat und wird letztendlich in Schorndorf heimisch. Aber, als Katholik und Künstler in einer protestantisch-pietistischen Stadt, ein Spaziergang war das beileibe nicht.

Die Kindheit verbrachte Seidel in Scharley beziehungsweise Deutsch-Piekar, Kohlengrubenrevier im Grenzgebiet zwischen Weißrussland, Polen und dem Deutschen Reich. Erzogen - und vor allem religiös sozialisiert wurde Alfred Seidel von zwei Tanten aus kleinbürgerlichen, leidenschaftlich tief-katholischen Verhältnissen.

Die mystische Aura des Wallfahrtsortes mit seinen ekstatisch-spirituellen Begleiterscheinungen hat die Phantasie des Jungen tief geprägt. Ein Zeichenlehrer wurde auf ihn aufmerksam und förderte sein Talent. Noch vor dem Abitur begann er eine Ausbildung als Theatermaler in Beuthen. Diesen Beruf setzte er später am Stadt- und Landestheater in Salzburg fort.

Der Vaterverlust hat Alfred Seidel tief geprägt und ihn zum Gegner des Nationalsozialismus gemacht. Eingezogen wurde er in den II. Weltkrieg trotzdem. Zweimal wurde er verwundet. Im Zusammenhang mit der ersten Verwundung lernte er 1942 im Lazarett in Welzheim seine spätere Frau Elisabeth aus Schorndorf kennen. Trotz des Verlustes des rechten Auges bei der zweiten Verwundung blieb Seidel konsequent bei seiner Künstlerberufung. Mit einem geradezu kindlich-ganzheitlichen Gottvertrauen begann der Künstler nach dem Krieg seine Existenz als "Freischaffender". Kunstgeschichtlich gab es erdbebenartige Bewegungen: Nach dem faschistischen Brutalo-Realismus rezipierten die deutschen Künstler hektisch die internationalen Entwicklungen, die ja weiter gegangen sind - was zu heftigen internen Kämpfen führte: die "Gegenständlichen" gegen die "Abstrakten", die "Naturalisten" gegen die "Konstruktivisten" und die "Rationalisten" gegen die "Emotionalen" .

Alfred Seidel hat diesen Neufindungs-Prozess durchlebt und durchlitten - und dabei ein bewundernswertes Lebenswerk geschaffen. Als Illustrator wurde er bald überregional bekannt - viele bewunderten ihn allein wegen seiner sprechenden Zeichnungen zur "Kleinen Dott". Alfred Seidel führte zahlreiche Portrait-Aufträge aus und schuf ein Sakral-Werk von immenser Breite und Tiefe. Über 80 Kirchen hat er ausgestattet, von Glasfenstern über Wandbilder bis zur plastischen Gestaltung von Sakralgegenständen. Seine außerordentliche Belesenheit und Kompetenz im Bereich der Literatur machte ihn zu einem kongenialen Literatur-Illustrator - wobei die Illustrationen zu den russischen Klassikern besonders zu nennen sind.

Neben seiner bildnerischen Arbeit hat Alfred Seidel auch ein breites literarisches Schaffen vorzuweisen: von zahlreichen Dramen über eine sensible Lyrik bis hin zu einer fesselnden autobiografisch eingefärbten Prosa.

Der ehemalige Schulleiter der Gottlieb-Daimler-Realschule, Gottfried Till, wird diesen bislang vernachlässigten Bereich am Veranstaltungsabend besonders beleuchten.

Programm

Eröffnungsmusik: Duo Matthias und Roswitha Seidel, Grußworte von Dekan Manfred Unsin, BM Andreas Stanicki und Dekan Volker Teich; Frieder Stöckle: "Alfred Seidel als Mensch und Künstler", Ein Filmportrait: "Werkstattnotizen" von Rolf Failmezger, Gottfried Till: "Alfred Seidel und die Literatur", Worte des Gedenkens an Alfred Seidel von Prof. Matthias Seidel, Dr. Holger Dietrich: Vorstellung der "Heimatblätter", Musikalische Zwischengestaltung: Matthias und Roswitha Seidel.